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Social Distancings are my reality

Moralisches Dilemma: Um die Einsamkeit und das Social Distancing auf meinem Hannibal Trek zu finden, musste ich das Social Distancing ein Stück weit aufgeben, um dort hin zu reisen
Moralisches Dilemma: Um die Einsamkeit und das Social Distancing auf meinem Hannibal Trek zu finden, musste ich das Social Distancing ein Stück weit aufgeben, um dort hin zu reisen © gipfelwelt.net

Social Distancing ist auf unbestimmte Zeit zu einer sozialen Norm geworden, und das Reisen verändert sich gravierend. Was bedeutet das für uns Outdoor-Fans?

Social Distancing ist gleichzeitig Ziel und Problem

Vieles am Social Distancing ist für uns Outdoor-Enthusiasten weder nervig noch mit Verzicht verbunden. Denn wir sind in der ungewöhnlichen Situation, dass die ganze Gesellschaft sich an Regeln halten muss, die wir eigentlich zu unserer Lebensart erklärt haben. Wir suchen die Einsamkeit, wir wollen allein unterwegs sein, möglichst wenig ausgetretene Pfade begehen, und die Hotspots mit den großen Parkplätzen, Tagestouristen und Wandergruppen verursachen uns ein Naserümpfen.

Was sich für uns alle jedoch gravierend verändert hat und für unabsehbare Zeit, vielleicht für immer, auch anders sein wird, ist unsere Art zu reisen. Denn um an den Ort unserer Sehnsucht zu kommen, ist es eine Herausforderung, Social Distancing konsequent einzuhalten.

Kurz bevor ich meine Reise nach Frankreich antreten wollte, um meinen Hannibal Trek zu absolvieren, kam für die fragliche Region Hautes-Alpes die pandemiebedingte Reisewarnung des Auswärtigen Amtes. Das stellte mich vor das moralische Dilemma, ob ich jetzt immer noch guten Gewissens dort hin reisen kann, oder ob schon das Reisen an sich durch eine Reisewarnung verwerflich wird. Der Bundesgesundheitsminister als Hautpverantwortlicher für die neuen pandemiebedingten sozialen Regeln betont ja gern, eine Reisewarnung sei kein Reiseverbot, solle aber natürlich eine „abschreckende“ Wirkung haben. Doch wie sieht das aus, wenn das Ziel der Reise das Social Distancing ist, weil ich einsam durch die Berge stapfen will? Muss ich mich da auch abschrecken lassen und meine bereits geplanten Touren canceln?

Das Dilemma der Unplanbarkeit

Teil des Social Distancing Dilemmas ist: Die Reisewarnungen werden ja auf tagesaktueller Lage ausgesprochen oder zurückgenommen, niemand weiß, wie die Pandemiesituation in einigen Wochen sein wird. Lange flachten die Infektionszahlen in den meisten europäischen Ländern ab, es stellte sich so etwas wie Gelassenheit ein. Doch mit dem Ende der Sommerferien, so scheint es, hat auch die Gelassenheit ihr Ende und in ganz Europa flackern Infektionsherde wieder auf, Deutschland inklusive. Einige lokale Lockdowns drücken die Stimmung zusätzlich. Aber ist es eine Option, seine ganze Reiseplanung auf unbestimmte Zeit komplett auf Eis zu legen?

Teil des Social Distancing Dilemmas ist auch: Noch nie in der Geschichte der Menschheit war Reisen so einfach und günstig wie, sagen wir mal, seit den 1990er Jahren. Für meine Großeltern war es noch ein Abenteuer, nach Italien zu reisen, und dieses Abenteuer war ihnen erst in fortgeschrittenem Alter überhaupt möglich. Meine Eltern hielten, geprägt vom Kalten Krieg, den halbem Globus für eine No-go-Area, und Interkontinentalflüge machte man als Normalsterblicher vielleicht ein-, zweimal in seinem Leben. Die Demokratisierung der Reisebranche, insbesondere des Flugverkehrs, machte meine Generation dann aber zu Schnäppchenjägern und Möchtegern-Jetsettern, die für kleine und kleinste Preise problemlos mehrmals im Jahr verreisen und bis auf Kriegsgebiete von nichts mehr dabei aufgehalten wird.

Je exotischer das Land, desto höher die Anerkennung im Freundeskreis. Die „gewöhnlichen“ Reiseziele hingegen taugen gerade noch für „Kurztrips“. Ein paar Tage New York, ein Abstecher nach Dubai, oder London morgens hin abends zurück – für fast jeden möglich dank der Überwindung von zeitlichen und finanziellen Hürden in einem explodierenden Reisesektor mit All Inclusive Angeboten und Billigairlines, die jedes andere Verkehrsmittel preislich ausstechen. Das ist ein neues Zeitalter der Menschheitsgeschichte. Darauf gibt es kein Grundrecht und es kann gut sein, dass nach der momentanen Implosion der gesamten Reisebranche diese Zeiten ein Stück weit vorbei sein werden.

Das Dilemma der Freiheit ohne Spontanität

Doch ein Teil des Social Distancing Dilemmas in der Pandemiezeit ist auch: Spontanität geht mit den neuen Freiheiten des Reisesektors nur bedingt einher. Die meisten Menschen brauchen eine gewisse Vorlaufzeit, um ihre Reisen zu planen, und können nicht einfach alles spontan machen. Schon rein finanziell wäre das ein Desaster. Denn gleichzeitig mit dem Aufkommen der schier unbegrenzten Reisefreiheiten hat uns die Reisebranche dazu erzogen, dass wir die Billigpreise und die Schnäppchen nur kriegen, wenn wir uns lange im Voraus festlegen, was Reiseziel und Aufenthaltsdauer angeht.

Und wehe, die Pläne ändern sich spontan, vielleicht auch wegen eines Notfalls: Dann dürfen wir kräftig zahlen. Umbuchungen und Stornierungen werden uns so schwer und so teuer gemacht, wie es nur geht, selbst wenn wir selbst gar nichts dafür können. Es ist einfach im System der Billigreise nicht vorgesehen und es gibt dafür kaum Ressourcen. Gerade wurde ich bei einer Beschwerde über das noch nicht erstattete Ticket eines von der Airline stornierten Fluges darüber informiert, dass man „drei Monate Bearbeitungszeit“ brauche – nachdem ich schon seit zwei Monaten auf das Geld warte! Unter Umständen sehen wir eh keinen Cent wieder und verlieren vielleicht auch den Elan, den „paar Euros“ ewig hinterherzurennen. Schließlich warten schon die nächsten Schnäppchen auf uns.

Das Dilemma der globalen, aber auch nationalen Verbreitung

Außerdem ist es ein weiterer Teil des Social Distancing Dilemmas, dass es in einer weltumspannenden Pandemie wie der jetzigen auch in der Heimat nicht viel anders aussieht. Es ist nicht per se weniger gefährlich und mehr im Sinne des politisch verordneten Social Distancing, an dem Ort zu sein, wo man wohnt. Die Weltgesundheitsorganisation wiederholt gebetsmühlenartig, aber politisch ungehört, dass Reisebeschränkungen keinen Nutzen haben zur Eindämmung einer Pandemie. Wohl aber bringen sie natürlich wirtschaftlichen und sozialen Schaden.

Auch zu Hause gibt es ständig neue Pandemiehotspots, überfüllte Arbeitsräume, Geschäfte und Bars. Und daraus resultierend Warnungen, die erhoben und zurückgenommen werden, Lockdowns, Beschränkungen, Sperrstunden, Verbote. Derzeit erfahren wir, dass die meisten Ansteckungen im privaten Umfeld passieren sollen, auf Feiern und bei anderen Anlässen, die in einem großen Widerspruch zum Social Distancing stehen, aber halt auch Teil unserer Bedürfnisse, unseres Lebens uns Alltags sind. Auch das können wir nicht alles einfach auf unbestimmte Zeit auf Eis legen.

Die Lösung liegt im eigenverantwortlichen Handeln

Das Entscheidende beim Social Distancing ist, wie man das tut, was man tut. Fakt ist, dass wir auf unbestimmte Zeit mit temporär ausgesprochenen Reisewarnungen werden umgehen müssen, und die können auch unsere Heimatregion betreffen. Wo will man eine Grenze ziehen. Schon ein paar Stationen mit öffentlichen Verkehrsmitteln stellen ein Risiko dar. Und einsame Wanderungen in den deutschen Alpen? Eher nicht möglich. Ich meine die Region ist fantastisch und die Königssee-Umrundung aus gutem Grund auf meiner Bucket List. Aber sie ist eben auch extrem stark frequentiert.

Somit sind wir Outdoor-Fans und insbesondere uns Einsamkeit liebende Bergwanderer wieder am Anfangsdilemma: Wir müssen Social Distancing ein Stück weit aufgeben, um das Social Distancing zu finden, das unser Mantra ist. Die einsame Natur ist nur dort einsame Natur, wo wir uns alleine hin begeben. Wir müssen reisen, um ans Ziel zu kommen. Unterm Strich gefährden wir uns und andere damit aber weniger, als wenn alle das Gleiche tun und an die gleichen Orte fahren.

Also gilt es, wenn man sein Leben nicht komplett zurückfahren und sich einigeln möchte, Wege zu finden, das Social Distancing und die sonstigen wichtigen Schutzmaßnahmen nicht nur zum Bestandteil der Unternehmungen und des Alltags zu machen, sondern sich auch fest darauf einzurichten. Und natürlich müssen wir bereit sein, Konsequenzen wie Pflichttests und Quarantänezeiten in Kauf zu nehmen und auch mitzutragen.

Eine Politik mit Augenmaß, welche die Sinnhaftigkeit von Maßnahmen und Beschränkungen regelmäßig revidiert und sie anpasst, ist dafür natürlich ebenso unabdingbar. So wie die Sicherheitskontrollen am Flughafen vor dem Flug und die Handgepäckrestriktionen seit 9/11 für uns mittlerweile Selbstverständlichkeiten geworden sind, so halte ich es für sehr wahrscheinlich, das Gesundheits-Checks nach dem Flug und an den Landesgrenzen ebenfalls eine neue Reisenormalität werden könnten.

Eigenverantwortung ist das Stichwort, um weder sich noch andere einer vermeidbaren Gefahr auszusetzen. Vermeidbar. Denn ein Leben ohne Gefahr ist nicht möglich. Ich habe meinen lange geplanten und vorbereiteten Hannibal Trek deswegen auch mit Reisewarnung gemacht, und damit nicht nur im Naturpark Queyras eine fantastische, einsame und kaum frequentierte Gebirgswelt vorgefunden, wo wir paar Wanderer unserer Sehnsucht nachgehen konnten, ohne uns gegenseitig in die Quere zu kommen.

Meine Mund-Nasen-Maske ist ja eh schon seit Monaten ein fester Alltagsgegenstand. Für die Flüge hatte ich mir jetzt medizinische FFP2/KN95-Masken besorgt, um mich selbst auch noch besser zu schützen. Ich hatte während der Anreise und der Rückreise ansonsten zu keinem Zeitpunkt Probleme, die AHA-Regeln einzuhalten, da sich doch zumindest die große Mehrheit der Menschen einigermaßen vernünftig verhält.

Am Sicherheitscheck im Flughafen ging es ruhig und diszipliniert zu, genauso wie bei der Abholung des Mietwagens, mit dem ich dann sogar ohne öffentliche Verkehrsmittel, auf im Übrigen einsamen Bergstraßen, ans Ziel gekommen bin. In Frankreich selbst habe ich die Einhaltung der AHA-Regeln und besonders des Tragens einer Maske deutlich disziplinierter erlebt. Auch in jedem Bergdorf restriktive diesbezügliche Einganskontrollen in den Supermärkten durch Security-Leute. In der Öffentlichkeit ist Maske in den Innenstädten auch meist Pflicht, und vor meinen Augen wurde sogar eine Rollerfahrerin von der Polizei gestoppt, weil sie keine Mund-Nasen-Maske trug.

Das soll kein Plädoyer dafür sein, Reisewarnungen zu ignorieren. Das soll ein Plädoyer dafür sein, eigenverantwortlich zu handeln und sich und andere nicht unnötig zu gefährden. Und es soll ein Plädoyer dafür sein, eine neue Reisenormalität zu akzeptieren und Wege zu finden, damit umzugehen. Moralische Argumente ziehen für mich hier nicht, um zu begründen, warum dies oder jenes besser sein sollte. Denn Social Distancing ist nicht gleichzusetzen mit Reiseverzicht, wie ich versucht habe auszuführen. Social Distancing kann überall stattfinden oder ignoriert werden, angefangen in den eigenen vier Wänden. Social Distancing heißt verantwortungsvoll das zu tun, was wir tun. Und die Widersprüche auszuhalten und zu akzeptieren, die das menschliche Handeln eigentlich immer mit sich bringt.

Und wer nicht weiß, worauf der Titel dieses Beitrags anspielt:

Last Updated on Juni 14, 2024 by Raffaele

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